St. Galler Tagblatt 26.11.2006
Die mit einer fundamentalistischen Freikirche verbundene Privatschule Domino Servite in Kaltbrunn ist ins Gerede gekommen – es herrsche Psychoterror. Wegen seiner Aufsichtspflicht geriet auch der Kanton in die Kritik. Felix Baumer, Leiter des Amts für Volksschule, wehrt ab: «Die Aufsichtspflicht betrifft nur Schulisches.»
Die Vorwürfe ehemaliger Schüler gegen die Schule Domino Servite sind dem Kanton seit längerem bekannt. Warum hat er nichts unternommen?
Felix Baumer: Dass wir nichts unternommen haben, stimmt nicht ganz. Ehemalige sind im Jahr 2000 mit den Vorwürfen an uns gelangt. Wir haben daraufhin eine Untersuchung eingeleitet und der Schule rechtliches Gehör gewährt. Es stand Aussage gegen Aussage. Wir haben alle Anschuldigungen umfassend abgeklärt. Aber wir hatten keine handfesten Beweise, die eine Schließung juristisch gerechtfertigt hätten. Ein weiteres Problem ist, dass wir nicht ohne die Eltern auskommen. Sie müssen die Vorwürfe bestätigen. Dass dies bei einer streng religiösen Gemeinschaft ein Problem ist, ist mir klar. Wir haben der Schule einen deutlichen Schuss vor den Bug gegeben. Sie hat realisiert, was wir alles wussten, aber nicht beweisen konnten. Ich glaube, das hat eine Wirkung.
Wurde die Schule danach genauer kontrolliert?
Baumer: Sie bekam keine Auflagen, weil keine Verurteilung vorlag. Wir haben aber genauer hingeschaut. Vor zehn Jahren, als es um die definitive Schulbewilligung ging und Vorwürfe gegen die Schule vorlagen, hatte ich ein ungutes Gefühl. Ich war mir bewusst, dass die damalige Leitung nur zugegeben hatte, was man ihr beweisen konnte. So wurde die Verbindung zur Freikirche nicht offen gelegt, bis wir sie belegen konnten. Aber die Schule hat sich weiterentwickelt, die heutige Leitung ist offener. Der pädagogische Ansatz ist natürlich immer noch nicht der gleiche wie in der öffentlichen Schule. Aber es gilt die Religionsfreiheit, und der Staat kann keine Gewissensprüfung vornehmen. Eltern, die ihr Weltbild in den Kindern konservieren möchten, suchen Schulen mit konservativ-religiöser Ausrichtung.
Sind Sie mit der jetzigen Situation zufrieden?
Baumer: Nach meinem Weltbild sollte ein Kind in einem offenen Geist erzogen und auf eine multikulturelle Gesellschaft vorbereitet werden. Deshalb habe ich persönlich Mühe mit privaten Schulen, die ein enges Weltbild vermitteln. Ich bin mir auch bewusst, dass in einem solchen System psychischer Druck entstehen kann, ohne dass wir es verhindern können.
Wann könnte der Kanton eingreifen und eine Schule schliessen?
Baumer: Es braucht konkrete Beweise. Es müssen juristische und strafrechtliche Strafbestände vorliegen. Eltern von Schülern müssen bestätigen, was passiert ist. In öffentlichen Schulen ist das wesentlich einfacher. In einer streng religiösen Privatschule wie Domino Servite können und wollen Eltern nichts innerhalb des Schulbetriebs ändern. Sie stehen voll hinter der Lehrerschaft.
Ehemalige sagen, dass die Lehrer ohne Lehrerlaubnis unterrichten.
Baumer: Die Lehrer der Domino Servite haben eine Lehrbewilligung des Kantons. Aber nicht alle haben ein staatliches Lehrerdiplom. Das Gesetz verlangt ein Diplom oder einen gleichwertigen Ausweis für den betreffenden Unterricht. Darin unterscheidet sich die Schule nicht von den übrigen Privatschulen.
Ehemalige berichten, dass bei Schulinspektionen inszeniert wird.
Baumer: Ganz kann man solche Inszenierungen nicht ausschließen, selbst in der Volksschule nicht. Aber auf Dauer lässt sich das nicht durchhalten, weil die Besuche meist nicht angekündigt sind. Es ist aber klar, dass man nicht alles sieht, was falsch läuft. Das Instrument des Schulbesuchs ist zu grobmaschig, als dass wir dadurch Missstände aufdecken könnten. Im privatisierten Bereich kann der Staat nicht im gleichen Maß Verantwortung übernehmen wie im öffentlichen Sektor.
Dann sind die Schulbesuche eine Alibiübung?
Baumer: Nein, das nicht. Die Visitatoren prüfen in erster Linie, ob die schulischen Ziele erreicht werden. Die Besuche sind nötig, auch wenn sie in anderen Bereichen nicht alles bringen. Die Aufsichtspflicht betrifft im Grunde nur Schulisches, wie in der Volksschule auch. Das ist messbar.
Die Domino Servite ist eine von 27 Privatschulen im Kanton. Welche Bestimmungen muss eine neue Schule erfüllen, damit sie eine Bewilligung erhält?
Baumer: Die gesetzlichen Vorschriften sind relativ weit gefasst. Privatunterricht ist im Volksschulgesetz vorgesehen. Es gibt deshalb relativ wenige Vorschriften. Privatschulen sind verpflichtet, den Lehrplan und die Unterrichtsziele zu erreichen. Zudem müssen sie qualifiziertes Lehrpersonal und geeignete Schulräume vorweisen. Sie sollen einen der Volksschule gleichwertigen und auf Dauer ausgerichteten Unterricht bieten.
Welche Rolle spielen Weltanschauung oder Religion der Schulgründer?
Baumer: In der Schweiz herrscht Glaubensfreiheit. Es ist keiner Gemeinschaft verboten, eine eigene Schule zu gründen. Wir dürfen die Religion oder die Weltanschauung nicht beurteilen. Wenn jemand die nötigen Nachweise bringen kann, dann ist die Bewilligung zu erteilen. Ob es uns passt oder nicht, ist unerheblich.
Inwieweit darf die religiöse Überzeugung der Lehrer eine Rolle im Unterricht spielen?
Baumer: Das ist natürlich der kritische Punkt und schwer fassbar. Wie gesagt, mit unserem Instrument, dem Schulbesuch, finden wir es nicht heraus. Das ist für uns eine unbefriedigende Situation. Die Schule sollte Jugendliche zur Selbständigkeit und geistigen Freiheit erziehen. Das ist in streng religiösen Schulen nicht gewährleistet. Die Schülerschaft besteht schon aus einem eingeschränkten Spektrum. Zudem besteht eine einheitliche Auffassung bei Eltern und Lehrern. Das ergibt für Schüler eine Situation, in der es fraglich ist, wie frei sie ihre Selbstbestimmung erreichen können. Aber der Staat kann Eltern die Verantwortung nicht abnehmen. Es ist ihr freier Entscheid, in welche Schule sie ihre Kinder schicken. Nur wenn offensichtliche Fälle von Missbrauch oder Gewalt vorliegen, können wir einschreiten.
Wie bleibt der Kanton bei der Schule Domino Servite «am Ball»?
Baumer: Für uns besteht kein unmittelbarer Handlungsbedarf, weil keine aktuellen neuen Vorkommnisse vorliegen. Wir verfügen zwar über neue Informationen, welche die alten Vorwürfe bekräftigen. Aber diese Informanten möchten anonym bleiben. In einem rechtsstaatlichen Verfahren hat aber der Beschuldigte das rechtliche Gehör. Und das können wir aus Gründen des Datenschutzes nur dann gewähren, wenn wir dazu ausdrücklich ermächtigt werden. Und das ist hier nicht der Fall.
Interview: Katja Müller